Über 30 000 Prozesse werden Jahr für Jahr wegen Arbeitszeugnissen geführt. Dabei werden diese Dokumente, sieht man von den darin enthaltenen Tätigkeitsbeschreibungen ab, von den Personalverantwortlichen kaum noch gelesen. Personalberater Frank Adensam plädiert für ein Abschaffen des „qualifizierten Arbeitszeugnisses“ – zumal kein anderes Land weltweit eine solche Arbeitzeugnis(un)kultur wie Deutschland kennt.
Klaus Schultz (Name geändert), ehemaliger Leiter Qualitätsmanagement in der chemischen Industrie konnte es kaum glauben, als er im Beratungsgespräch beim Personalberater erfuhr, welche Botschaften er mit seinem Arbeitszeugnis in jeder Bewerbungsmappe mittransportierte. Schlagartig war ihm klar, warum seine Bewerbungskampagne so zäh und erfolglos verlief.
Chronologisch geschah folgendes: Drei Monate vor seinem Ausscheiden nach fünfjähriger erfolgreicher Tätigkeit als Leiter QM in einem großen Chemiekonzern verließ sein langjähriger Vorgesetzter das Unternehmen. Mit dem Nachfolger kam er nicht zurecht. Der allerdings schrieb ihm das Arbeitszeugnis für die gesamten fünf Jahre. Es war vernichtend. Dr. Schultz ließ sich rechtlich beraten und zog vors Arbeitsgericht. Es wurde um Formulierungen gestritten und nach zwei Kammerterminen einigte man sich auf einen Kompromiss.
Zwischenzeitlich bewarb sich Dr. Schultz erfolgreich bei einem kleineren Life-Science-Unternehmen und wurde dort angestellt. Das Arbeitszeugnis reichte er nach. Dieser neue Arbeitgeber musste allerdings zwei Jahre später Personal abbauen. So kam Dr. Schultz im Rahmen eines Outplacements zu uns in die Beratung. Ich sprach ihn schon zu Beginn des ersten Beratungsgesprächs auf die Ungereimtheiten in seinem Arbeitszeugnis an. Er war überrascht, dass sein Zeugnis trotz anwaltlicher Beratung immer noch unterschwellige Negativ-Botschaften enthielt und berichtete mir die Geschehnisse bei seinem Vorarbeitgeber.
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Gerichte
Solche und ähnliche Fälle sind Alltag in unserer täglichen Arbeit als Personalberater. Arbeitszeugnisse können Karrieren zerstören. Ob tatsächlich oder vermeintlich, ob absichtlich oder unabsichtlich, ob zu Recht oder zu Unrecht – darüber streiten sich ausscheidende Mitarbeiter zuerst persönlich mit ihren Vorgesetzten und ihren Personalbetreuern und später dann über ihre Juristen vor den Arbeitsgerichten.
Jahr für Jahr werden vor den deutschen (Landes-)Arbeitsgerichten über 30. 000 Verfahren nur wegen Streitigkeiten rund um das Arbeitszeugnis geführt. (http://www.arbeitsgericht.de/statistik-arbeitsgericht/index.html). Und deutsche Arbeitsgerichte haben täglich hundertfach darüber zu entscheiden,
- ob ein Arbeitszeugnis gefaltet in einem Briefumschlag zugestellt werden darf (darf es nicht),
- ob die bescheinigte Zufriedenheit „voll“ oder „vollst“ war, in welcher Reihenfolge das Verhalten des Mitarbeiters in Bezug zu Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeitern zu formulieren ist und
- ob ein ausscheidender Angestellter das Recht auf einen Abschlusssatz hat, in dem „persönlich und beruflich alles Gute und viel Erfolg“ gewünscht wird.
Überflüssige Mehrarbeit für „Personaler“
Dieses Procedere findet nicht nur beim Ausscheiden des Mitarbeiters statt. Nein, die dringende Empfehlung aller Personal- und Karriereberater lautet: „Lassen Sie sich bei jedem Vorgesetzten- oder Abteilungswechsel, bei jeder Betriebsänderung und, damit Sie sich jederzeit extern bewerben können, auch mal zwischendurch ein Zwischenzeugnis ausstellen.“ Ein guter Rat. Denn welcher Vorgesetzte und welche Personalabteilung wären auch in der Lage, einem Mitarbeiter nach 25-jähriger Betriebszugehörigkeit ein Zeugnis mit vollständiger Tätigkeitsbeschreibung und ehrlicher Bewertung der fachlichen und persönlichen Leistungen sowie der Bewertung der Führungskompetenz auszustellen? Zwischenzeugnisse sind daher wichtig.
Täglich arbeiten Heerscharen von hochqualifizierten und teuer bezahlten Personalleitern, Personalreferenten, Fachvorgesetzten, Geschäftsführern, Fachanwälten für Arbeitsrecht, Arbeitsrichtern und Personalberatern mit all ihren Assistenten und Assistentinnen an der Arbeitszeugnisfront. Diese volkswirtschaftliche Ressourcenverschwendung erlaubt sich Deutschland in einer international unvergleichlichen Detailtreue und mit einem derart ausgefeilten Regelwerk, das es so nirgendwo auf der Welt gibt.
Ob dieser enorme Aufwand den erhofften Nutzen bringt, ist fraglich. Viele große Unternehmen setzen zur Arbeitsvereinfachung spezielle Software ein, die Arbeitszeugnisse mit Textbausteinen aufbaut und in die anfordernde Fachabteilung zurückgibt. Der Vorteil ist, dass dadurch eine unternehmenseinheitliche Zeugniskultur etabliert wird. Nur: Wer formuliert die Tätigkeitsbeschreibung? Wer gibt dem Programm vor, ob es „volle“ oder „vollste“ Zufriedenheit schreiben soll? Durch wie viel persönliches Wohlwollen oder Abneigung ist diese Entscheidung gefärbt? Entstand das „vollste“ einfach nur durch simple Konfliktvermeidung?
Hat eine Supermarktkassiererin Anspruch auf eine Formulierung, in der „Ehrlichkeit“ bescheinigt wird, obwohl man sich aufgrund eines Diebstahls von ihr trennt.
Viel Arbeit, aber wenig Aussagekraft
Arbeitszeugnisse müssen „wohlwollend“ formuliert sein. So will es der Gesetzgeber. Deshalb darf die unehrliche Kassiererin nicht als solche dargestellt werden. Aber darf man dann als Filialleiter eine Formulierung zur Ehrlichkeit in einem solchen Fall einfach weglassen? In der täglichen Personalpraxis wäre das ein eindeutiger Hinweis. Oder muss er gesetzlich verordnet lügen und Ehrlichkeit bescheinigen? Womöglich in der heimlichen Hoffnung, die diebische Mitarbeiterin möge bei der Konkurrenz eingestellt werden?
Wer nimmt Arbeitszeugnisse eigentlich noch ernst? In vielen Gesprächen mit Personalverantwortlichen zeigt sich, dass die mit hohem Aufwand erstellten Lobeshymnen oft gar nicht mehr gelesen werden. Gerade mal die Tätigkeitsbeschreibung interessiert zum Kompetenzabgleich und als Aufhänger für Fragen im Vorstellungsgespräch. Ebenfalls beachtet werden die Abschlusssätze. Sie sind, im Gegensatz zum Rest des Zeugnisses, nur bedingt einklagbar.
In der täglichen Praxis entstehen viele Arbeitszeugnisse zudem so, dass Mitarbeiter ihre Zeugnisvorlage selbst erstellen und diese in die Fachabteilungsleitung oder die Personalabteilung geben. Dort wird die Vorgabe oft ohne große Änderung als Arbeitszeugnis ausgestellt. Warum sollte man sich auch mit einem ausscheidenden Mitarbeiter über sein Arbeitszeugnis streiten? Welchen Aussagewert besitzen solche Zeugnisse?
Von Mitarbeitern selbst verfasste Zeugnisse bestehen in der Regel aus aneinandergereihten Floskeln aus dem Arbeitszeugnis-Ratgeber, den man zuvor für diesen Zweck im Fachbuchhandel erstanden oder im Internet heruntergeladen hat. Das Ergebnis: dreiseitige Arbeitszeugnisse mit aneinandergereihten Lobpreisungen im Superlativ und den verbindlichsten Dankesfloskeln in der Bewerbungsmappe eines Kandidaten, der die Probezeit nicht überstanden hat.
Quelle von Missverständnissen
Arbeitszeugnisse tragen Botschaften in sich, die für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen wichtig sind. Diese Botschaften sollten klar sein, sie sind es aber oft nicht. Was meint ein Dax-Konzern, der einem ausscheidenden gewerblichen Mitarbeiter Fleiß und echtes Bemühen bescheinigt? Wie müsste man dieselbe Formulierung interpretieren, wenn sie von einem selbständigen Stuckateurmeister mit drei Gesellen und einem Lehrling käme? Zu diesen Missverständnissen zwischen Sender und Empfänger kommen erhebliche juristische Probleme hinzu, wenn es tatsächlich im Ausnahmefall zum gezielten Machtmissbrauch kommt wie im Eingangsbeispiel.
In der jetzigen Form sind Arbeitszeugnisse zu aufwändig und zu langwierig in ihrer Erstellung, besitzen zu wenig Aussagekraft und mannigfaltige Möglichkeiten zu Missverständnissen. Bei größeren Arbeitsplatzabbaumaßnahmen verhindert die deutsche Arbeitszeugniskultur, dass sich die vom Jobverlust Betroffenen schnell auf eine neue Position bewerben können, weil das für die Bewerbung dringend notwendige Zeugnis von der Personalabteilung nicht in der notwendigen kurzen Frist ausgestellt werden kann. Wie vorteilhaft für die Personalabteilung und die Mitarbeiter wäre es in diesen Fällen, wenn die im SAP HR ohnehin schon erfassten Stellenbeschreibungen als „Neutrale Tätigkeitsbeschreibung zu Bewerbungszwecken“ ausgedruckt werden könnten.
In globaler Arbeitswelt nicht mehr zeitgemäß
Im Zeitalter der internationalen Vernetzung der Arbeitswelt kommen auf das deutsche Zeugnis(un)wesen neue Herausforderungen zu: Wie übersetzt man ein amerikanisches Empfehlungsschreiben („To whom it may concern“) ins deutsche? Wörtlich, interpretierend oder gar nicht? Gilt das dann auch für osteuropäische Arbeitsbücher? In welcher (Zeugnis-) Sprache sollte sich ein nach China entsandter Expatriate sein Arbeitszeugnis ausstellen lassen?
Wie man es dreht und wendet – die deutsche Arbeitszeugniskultur ist längst zur Unkultur verkommen und nicht zukunftsfähig. Sie ist ungerecht und teuer. Und sie lähmt betriebliche Prozesse im Personalwesen.
Dies ist ein Plädoyer, das „qualifizierte Arbeitszeugnis“ abzuschaffen und durch neutrale Tätigkeitsbeschreibungen ohne fachliche und persönliche Bewertung zu ersetzen. So würde die Abhängigkeit der ausscheidenden Mitarbeiter vom persönlichen Wohlwollen seines oder seiner Vorgesetzten reduziert und das technische Handling von Exit-Prozessen im beiderseitigen Interesse vereinfacht und beschleunigt. Außerdem würden die Kosten in der Personaladministration und in der Arbeitsgerichtsbarkeit gesenkt. Die Reduktion auf einfache Tätigkeitsbeschreibungen würde ein anachronistisches Konfliktfeld beseitigen, von dem man sich tatsächlich wundern muss, dass es im Zeitalter von Antidiskriminierung nicht schon längst verschwunden ist.
Wenn Sie dieses Plädoyer zur Abschaffung qualifizierter Arbeitszeugnisse unterstützen, reichen Sie es bitte innerhalb der Fachwelt weiter. Vielleicht gelingt es, eine Diskussion auszulösen, die den Keim der Veränderung in sich trägt.
Frank Adensam
Zum Autor:
Frank Adensam ist geschäftsführender Gesellschafter der ADENSAM Die Personalberater GmbH, Ludwigshafen am Rhein Email:
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; Tel.: Email: 0621/59895.14
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